von Harald Weisshaar

Gibt es ihn wirklich, diesen Unterschied zwischen fiktionaler Welt und realer Welt? Oder geht es beim Lesen von Literatur nicht vielmehr auch darum, die reale Welt immer wieder neu zu entdecken und zu bewerten, mit anderen Augen zu betrachten, und dies auf spannende, motivierende, ja durchaus auch unterhaltsame Weise zu tun?

In den Bildungsplänen vergangener Zeiten tauchte beim Lesen gelegentlich der Begriff der vicarious experience auf: the knowledge or information about a skill or behaviour derived from seeing the performance of others. Wie funktioniert unsere Welt? Wie werden Ereignisse anderswo wahrgenommen? Wie gehen unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Herausforderungen und Lebensumständen um? Genau dies kann Literatur wie kein anderes Medium leisten: Der Roman wird sozusagen die Ergänzung zur Tagesschau, die Erweiterung unseres Weltwissens – eigentlich unseres Wissens über mehr als nur eine Welt! “It‘s our goddamed city!

It‘s our goddamed country. No terrorist can take it from us for so long as we‘re free. Once we‘re not free, the terrorists win! Take it back! You‘re young enough and stupid enough not to know that you can‘t possibly win, so you‘re the only ones who can lead us to victory! Take it back!”

Cory Doctorow, Little Brother

Dieses Zitat aus dem Roman ist unglaublich provokativ, aufrüttelnd und hochaktuell zugleich, egal, ob Sie es im Unterricht mit aktuellen Nachrichten vergleichen oder in Bezug zur Neujahrsansprache der Kanzlerin setzen.

Reality leaves a lot to the imagination

John Lennon

Literatur und Aktualität bereichern sich gegenseitig: Hochaktuelle Themen finden ihren Niederschlag in fiktionalen Werken. So spielten z. B. die Themen Terrorismus und die Gefahren eines allzu großzügigen Umgangs mit dem Internet in der Jugendliteratur vor 20 Jahren quasi keine Rolle. Dies hat sich grundlegend geändert. Im Falle von Dystopien sind die fiktionalen Welten häufig gar nicht mehr so fiktional, sondern sehr nahe dran an unserer Lebensrealität, womit auch die hohe Beliebtheit bei Jugendlichen erklärt werden kann. Beim Lesen verstehen wir die fiktionale Welt vor allem aufgrund unserer Beschäftigung mit Alltagsthemen und in Ableitung von Entwicklungen in unserem eigenen Leben. Aktuelle Ereignisse erschließen sich uns dadurch wesentlich besser, weil im Roman selbst die dortige Welt ausführlich geschildert und erklärt wird. Sie wird von den Protagonisten reflektiert, diese agieren und verstehen Zusammenhänge und Auswirkungen ihres Tuns besser und begreifen auch im Gespräch mit anderen fiktiven Persönlichkeiten, „what makes the world go round“. Sie stellen sich die Frage, wie sie gegen subjektiv gefühlte Ungerechtigkeit vorgehen können, wo sie selbst aktiv werden wollen, wo es Handlungs- und Klärungsbedarf gibt. Diese Überlegungen finden schließlich nicht nur in der Welt des Romans statt, sondern werden von den jugendlichen Lesern mit in unsere Welt hinübergetragen.

Gerade bei einem hochaktuellen Thema kann der Literaturunterricht alle Register seines Könnens ziehen, z. B. im Bereich des Text- und Leseverständnisses einerseits, vor allem jedoch durch kreative Arbeitsweisen wie Rollenspiele, hot chairing, debates, discussions etc.

Die emotionale Erfahrung unterschiedlichster Szenarien, häufiger Perspektivenwechsel, die Einnahme ungewöhnlicher Positionen, die Reflektion von Motiven und Antriebsmechanismen – auch in der Fremdsprache – schult bei behutsamer Bereitstellung von scaffolding nicht nur die interkulturelle kommunikative Kompetenz der jugendlichen Leserinnen und Leser.

Der Umgang mit Literatur schärft immer auch deren Critical Thinking Skills, um ihre und unsere Welt besser zu verstehen und letztlich weiter zu gestalten.

Just IMAGINE.

Cory Doctorow
Little Brother
376 Seiten
978-3-12-579898-4