von Kerstin Sonnenwald

Klassiker sind bei jugendlichen Lesern nicht besonders beliebt, gehören aber unverzichtbar zum Pflichtprogramm im Deutschunterricht. Dabei sind die Themen unserer Klassiker auch heute noch – oft überraschend – aktuell. Der Zugang für die Schülerinnen und Schüler ist durch Sprache und Form oft schwer zu finden. Das Konzept von „Klassiker trifft Comic“ bietet einen Ausweg aus dem Dilemma.

Den Zugang erleichtern …

Auf humoristische Weise bietet ein vorangestellter Comic auf knapp 40 Seiten einen Überblick über den Inhalt und hebt zugleich die wichtigsten Figuren und deren Charaktereigenschaften hervor. Am Beispiel von Wilhelm Tell lässt sich das sehr schön illustrieren: Die absurde Steuerpolitik der Habsburger, die zum Aufstand der Schweizer führt, wird im Comic als Steuer auf die Löcher im Käse ‚übersetzt‘. Dass die brüchige Hoffnung der Aufständischen auf einem Greis liegt, zeigt der Comic eindrücklich: Attinghausen liegt auf dem Rütli im Krankenbett, das er in keiner Szene verlässt. Der Comic liefert damit nicht nur einen raschen Überblick über die Handlung, sondern hebt zentrale Ereignisse im Hintergrund des Geschehens und zentrale Merkmale der Figuren visuell und sprachlich verknappt hervor. So wird das Textverständnis der Leserinnen und Leser durch den Comic bereits vorentlastet. Die Zuspitzung auf Entscheidungssituationen stellt ein weiteres Konzeptmerkmal dar. Die Leser können im Verlauf des Comics mehrmals wählen, welchen Fortgang das Geschehen nehmen wird. Insgesamt vier Entscheidungsfragen heben spielerisch die dem Drama zugrunde liegenden Konflikte hervor: Wird Tell auf den Apfel auf dem Kopf seines Sohnes zielen? Wird Tell seine moralischen Bedenken überwinden, den Pfeil auf den Tyrannen richten und damit zum Mörder? Wird Tell einen anderen Mörder schützen?

Mit dem Genre des Comics im ersten Teil des Buches wird auf positive Leseerfahrungen der Jugendlichen zurückgegriffen. Die Verdichtung des Stoffs im Comic lenkt die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler sichtbar auf den Subtext, auf die Gefühle und Gedanken der Figuren, die im Original erst mit der Interpretation deutlich werden. So kann die Neugierde der jungen Leser auf weitere Sollbruchstellen, auf unfreiwillige Komik, tragische und actionreiche Momente der Dramenhandlung geweckt werden. Sie können sich besser auf die Poesie der Sprache einlassen, weil der grobe Inhalt bereits bekannt ist. Die Verbindung von Comic und Originaltext bietet neue Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung. Die Schülerinnen und Schüler können syntaktisch aktiv werden: Sie können Szenen, die im Comic nicht aufgegriffen werden, als Comic zeichnen. Oder sie können die vielen sprichwörtlichen Sentenzen aus dem Wilhelm Tell – die zum kollektiven Gedächtnis gehören – in Bilder übersetzen. Es kann diskutiert werden, ob der selbstbewusste Umgang des Comics mit dem schillerschen Drama zu befürworten ist bzw. worin der Mehrwert eines solchen Umgangs mit einem Klassiker besteht.

… den Originaltext lesen!

Möglich sind also analytische wie handlungsorientierte Zugänge zum Text. Angepasst an die Lerngruppe und an die zur Verfügung stehende Stundenzahl kann der folgende Originaltext nur in Auszügen oder komplett gelesen werden. Erläuterungen zum Originaltext befinden sich leserfreundlich immer am Seitenende. Im Anhang des Buches findet sich eine tabellarische Übersicht zu Schillers Leben und Werk. Sechs gut verständliche und nicht zu umfangreiche „Lupentexte“ greifen Episoden und Informationen aus Schillers Leben bzw. der Entstehungsgeschichte des Wilhelm Tell auf.

Dieses neue Format bietet eine Begegnung mit dem Klassiker auf unterschiedlichen Niveaustufen an. In jedem Fall werden die Berührungsängste genommen, die die Lektüre klassischer Literatur in der Schule gewohnheitsgemäß begleitet. Das ist gerade bei Wilhelm Tell von besonderer Bedeutung, da es meist das erste klassische Drama ist, dem Schülerinnen und Schüler überhaupt begegnen.

Friedrich Schiller
Wilhelm Tell
216 Seiten
Originaltext mit Comic und Annotationen
978-3-12-666781-4