von Katrin Wilhelm, Verlagsredakteurin

AfD-Wahlkampf, Pegida-Demonstrationen oder NSU-Prozess: Nationalismus und Rechtsradikalismus sind aktueller denn je und dauerpräsent in allen Nachrichtenmedien. In sozialen Netzwerken werden Schülerinnen und Schüler mit rassistischen Parolen und Hass-Botschaften konfrontiert. Rechte und national gesinnte Organisationen bemühen sich, gerade Jugendlichen, die Orientierung und Gruppenzugehörigkeit suchen, Identifikationsangebote zu bieten.

Oft sind gar komplette Familienstrukturen in ein solches Umfeld eingebunden, sodass Kinder von klein auf ideologisch geprägt und indoktriniert werden. Gefährliche Parallelwelten innerhalb unserer Gesellschaft entstehen. Ein Thema, das gerade auch für den Deutschunterricht relevant ist, um Schülerinnen und Schüler vor ideologischer Beeinflussung bewahren zu können. Denn nur die aktive Auseinandersetzung mit der Problematik, den Mechanismen der rechten Szene und die Analyse der vermeintlichen Argumente stärken die kritische Urteilsfähigkeit der Jugendlichen. Lesetexte ermöglichen Einblicke in diese Mechanismen und bieten vielfältige Diskussionsanlässe.

Innensichten: Eine Kindheit unter Nazis

Die Lektüre „Ein deutsches Mädchen“ gibt Einblicke in eine vielschichtige und vielfältige rechte Szene und ist die Autobiografie einer Aussteigerin, die ihre Kindheit und Jugend unter Neonazis verbracht hat. Der Text ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen einer existierenden, in sich geschlossenen Parallelwelt: rechtsnationales Familienleben, fanatische Ideologen in Jugendcamps und prügelnde Neonazis. Mechanismen der Beeinflussung, strategisch inszeniertes Gemeinschaftsgefühl und die Isolation im Falle eines Ausstiegs werden deutlich. Für Schülerinnen und Schüler hat der Text eine besondere Faszination, da er auf Tatsachen beruht und zugleich die Sicht einer Jugendlichen beschreibt – das macht ihn spürbar authentisch. Die Lektüre fordert die Leser und zwingt sie Stellung zu beziehen.

Kindheit zwischen rechtem Sein und bürgerlichem Schein

„Ein deutsches Mädchen“ erzählt die besondere Lebensgeschichte von Heidi. Ihr Vater ist überzeugter Rechter, dessen autoritäre Erziehung von völkischer Gesinnung, nationalsozialistischem Gedankengut und entsprechenden Werten geprägt ist: Disziplin, Gehorsam, Fleiß, Ehre und Heimatliebe. Heidi wächst in einer Parallelwelt auf. Ihre Ferien verbringt sie in rechten Feriencamps der Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ), zu Hause wird von Ostpreußen statt von Polen gesprochen, und es wird die erste Strophe der Nationalhymne gesungen. Nur in der Schule prallen beide Lebenswelten aufeinander und zwingen Heidi dazu, eine Art Doppelleben zu führen. Der Text erzählt von dieser ungewöhnlichen Sozialisation.

Jugend zwischen Kameraden und ersten Selbstzweifeln

Bis zu ihrem 18. Geburtstag kennt Heidi nur Nazis, wiederholt deren Parolen, ohne sie zu hinterfragen. Sie akzeptiert die Gewalt gegenüber Andersdenkenden und ist selbst in Gewaltverbrechen verwickelt. Ihr Umfeld ist geprägt von Ablehnung und Hass, Verachtung von Polizei und Staat. Anhand ihrer authentischen Schilderungen der Szene lassen sich die Merkmale des Rechtsextremismus prägnant herausarbeiten.

Erst durch Irritationen und Krisen in der Pubertät und Jugendzeit, einen persönlichen Schicksalsschlag und nicht zuletzt die NSU-Prozesse beginnt Heidi, Umfeld und Ideologie zu hinterfragen. Sie findet mühevoll den Ausstieg aus der rechten Szene, der viel Mut erfordert. Heute engagiert sie sich für eine Aussteigerhilfe, um andere Jugendliche zu unterstützen und ihnen diesen Weg zu erleichtern.

„Ein deutsches Mädchen“ ist eines der wenigen Bücher, die die Szene und den Ausstieg aus weiblicher Perspektive schildern. Der Text bietet eine kritische Analyse, mit erklärenden Fußnoten: Er bringt ein hochaktuelles Thema mit Aufklärungs- und Diskussionspotenzial in den Deutschunterricht.

ZOOM

Die Lektürereihe Zoom – näher dran bietet authentische Texte zu aktuellen Themen. Das Lesen der Lektüren wird durch Annotationen und Hintergrundinformationen erleichtert.
www.klett-sprachen.de/zoom

Heidi Benneckenstein
Ein deutsches Mädchen
Mein Leben in einer Neonazi-Familie
192 Seiten
978-3-12-666919-1