von Birthe Bergmann (Gymnasiallehrerin)

Perspektivübernahme und Empathie mit Geschichten über Vergangenheit und Gegenwart

Für und Wider das Diktat des Zeitgenössischen

In der Jugendliteratur herrscht heutzutage das Ideal vor, thematisch möglichst contemporary zu sein. Das hat seine guten Gründe: Schülerinnen und Schüler scheinen leichter zu motivieren, wenn in einer Lektüre etwas beschrieben wird, das sie auch in ihrer unmittelbar gegenwärtigen Lebenswirklichkeit interessiert. Für historische Zusammenhänge hingegen sind sie oft nicht so leicht zu begeistern. Hier können aus Sicht der Jugendlichen schon Dinge als veraltet gelten, die vielen von uns noch ein Begriff sind, wie zum Beispiel CDs oder Festnetztelefone.

Darüber hinaus spricht für die Behandlung sehr aktueller Themen mit Protagonisten, die im gleichen Alter wie die Leserschaft selbst sind, dass die Jugendlichen eigene Lebenserfahrungen im Text wiederfinden und somit über den Vergleich der fiktionalen Welt mit der eigenen Gefühlswelt eine emotionale Verbindung zur Lektüre aufbauen können. Dieser Ansatz bewährt sich oft, denn viele brennende Themen unserer Zeit lassen sich ohne große Rückgriffe in die Geschichte begreifbar machen.

Aber auch wenn sich das vielleicht nur vermeintliche Diktat des Zeitgenössischen schon oft bewährt hat, sollten wir uns in der Jugendliteratur nicht die Möglichkeit verbauen, Fragestellungen auch in einem historischen Kontext erfahrbar zu machen. Denn oftmals lässt sich das Ausmaß einer aktuellen Problematik durch einen Blick auf historische Zusammenhänge besser und tiefgreifender erschließen.

Die in den Nachrichten allgegenwärtigen und kontrovers diskutierten Fragestellungen rund um Flucht und Migrationsbewegungen sind sicherlich ein Thema, das sich in einem größeren Kontext als dem rein zeitgenössischen zu betrachten lohnt.

So ist der Roman Refugee des amerikanischen Autors Alan Gratz ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man Handlungsstränge, die in unterschiedlichen Jahrzehnten spielen, so kombinieren kann, dass sich die Geschichten aus verschiedenen Epochen gegenseitig erhellen und zugleich die Leser in hohem Maße aufgefordert werden, sich mit den beschriebenen Schicksalen zu identifizieren.

Perspektivübernahme mit viewpoint characters

Während im Zentrum der Aufmerksamkeit stets eine packende Story steht, die man kaum aus der Hand legen will, fordert der Roman elegant beiläufig zur Identifikation mit jugendlichen viewpoint characters auf:

Aus einem Jungen wird innerhalb kürzester Zeit ein Mann (Josef aus Deutschland, 1938). Ein Mädchen rettet ihre gesamte Familie, indem sie opfert, was ihr am liebsten ist (Isabel aus Kuba, 1994). Ein Baby geht auf hoher See verloren (Mahmoud aus Syrien, 2015).

Durch die geschickte Wahl der jugendlichen Protagonisten in allen drei Handlungssträngen fällt es den Schülerinnen und Schülern hier leicht, eine Perspektive auf die historisch-politischen Zusammenhänge zu entwickeln. Sie nehmen dabei schnell die Perspektive der Kinder ein, auch wenn es vielleicht nur geringe Überschneidungspunkte mit der eigenen Alltagserfahrung gibt.

Abwechselnd wird vom Schicksal der drei Protagonisten berichtet, wodurch sich der Blick der Leser weitet – von der unmittelbaren Gegenwart über eine Zeit kurz vor ihrer Geburt bis hin zu einer mehrere Generationen zurückliegenden Epoche. Immer steht es dabei außer Frage, dass eine Flucht zu jedem dieser Zeitpunkte mit schrecklichsten Ereignissen, jedoch auch mit Hoffnung verbunden ist. Auch dies ist eine kostbare Einsicht.

Dabei ist die Übernahme fremder Perspektiven und die durch das Lesen geförderte Fähigkeit zu Empathie und Fremdverstehen wohl eine der wertvollsten Kompetenzen, die mit dem Lesen von Literatur erworben werden kann. Mit den Geschichten von Josef, Isabel und Mahmoud wird behutsam der Eindruck abgebaut, dass es sich um Geschichten der „Anderen“ handelt.

Bereicherung der Gegenwartsperspektive durch die Geschichte

Durch den Abgleich der Erfahrungen von drei unterschiedlichen Jugendlichen zu unterschiedlichen Zeiten und die geschickte Verbindung der Handlungsstränge, wird klar: Flüchtlingsströme fließen, aus Flüchtlingen werden Flüchtlingshelfer, aus sicheren Häfen Orte der Vertreibung und andersherum. Am Beispiel der drei wird klar: Ich bin „die Anderen“.

So ist Refugee ein ebenso eindringliches wie gefühlvolles Plädoyer für den verständnisvollen Umgang miteinander; ein Roman der bei Schülerinnen und Schülern ein historisches Bewusstsein für das Handeln im Jetzt schafft.

Unterrichtstipp

Durch kooperative Lernverfahren lässt sich die Perspektivübernahme noch vermehrt einüben. Unterschiedliche Lerngruppen können etwa die Gemeinsamkeiten der drei Zeitebenen herausarbeiten, wobei jeder Gruppe vorab nur Passagen eines Handlungsstrangs bekannt sind.

Alan Gratz
Refugee
320 Seiten
978-3-12-578223-5