von Barbara Knieling

Auf der Suche nach dem eigenen Weg

Neujahr im Auerhaus, die WG-Mitglieder sitzen mit Freunden in der Küche. Mitten im Katerfrühstück sagt Frieder: „Was man theoretisch richtig findet, das kann ziemlich weit weg sein von dem, was man praktisch aushalten kann.” Sein Freund Höppner stimmt in Gedanken zu – die Geschichte nimmt ihren Lauf.

Was läuft im Kopf des Lesers/der Leserin ab? Immerhin erscheint das Buch in der Reihe „Selbst(er)findungen“, in deren Mittelpunkt das Suchen und (Er-)Finden eigener Wege zum Erwachsenwerden stehen – womit wohl nicht nur die handelnden Protagonisten, sondern insbesondere die Leserinnen und Leser gemeint sein dürften.

Literarische Quasi-Erfahrungen

Ist es empfehlenswert, die Quasi-Erfahrungen, die sie beim Lesen des Buches machen, in die eigene Lebenswirklichkeit zu übertragen? Obwohl die erzählte Handlung im letzten Jahrhundert spielt, die Schülerinnen und Schüler aber in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts geboren wurden? So gesehen wohl kaum. Dennoch bietet der in den frühen 1980er- Jahren spielende Roman „Auerhaus“ von Bov Bjerg überraschende Überschneidungen mit dem Leben heutiger Heranwachsender, die beim Finden des eigenen Weges durchaus bedenkenswert sein können – sofern sie sich darauf einlassen.

Das Paradoxon des Lesens

Denn diesbezüglich hat es Schullektüre ziemlich schwer. Als Pflichtlektüre per se verpönt, stößt sie, je nach dominierender Meinung der Peergroup, auf eine verbreitete Abneigung gegen das Lesen. Damit sich junge Menschen selbst als Leserin oder Leser bezeichnen, benötigen sie ein soziales Umfeld, in dem Lesen ebenso selbstverständlich integriert ist, wie sportliche Aktivitäten (z. B. Fußball), Gaming oder Musikkonsum, und dementsprechend Gesprächspartner/-innen vorhanden sind. Denn obwohl Lesen an sich eine überwiegend einsame Tätigkeit ist, zeichnen sich gerade „gute“ Bücher dadurch aus, dass sie zum Nachdenken anregen und aus der Reflexion der Wunsch entsteht, sich darüber austauschen zu können. Eine Sternstunde für jede Lehrkraft, wenn dies im Rahmen des Unterrichts geschieht. Eine ebensolche für Schüler, wenn sich ihre Vorannahmen widerlegen und sie die Schullektüre berührt. Seitens der Schülerinnen und Schüler setzt dies die Erkenntnis voraus, dass Lesen sehr wohl etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun haben kann, seitens der Lehrkräfte jene, dass weder das Lesen, noch das Gespräch über das Gelesene, eingefordert werden können. Ein Paradoxon, das der ehemalige Lehrer Daniel Pennac in seinem Buch „Wie ein Roman“ wie folgt beschreibt: „Das Wort „lesen“ duldet keinen Imperativ. Eine Abneigung, die es mit ein paar anderen teilt: dem Verb „lieben“, dem Verb „träumen“ (…). Man kann es natürlich trotzdem versuchen. Probieren Sie es mal: „Liebe mich!“ „Träume!“ (…) „Geh in dein Zimmer und lies!“ Ergebnis? Null. Er ist über seinem Buch eingeschlafen. (…)“

Pralles Leben im Auerhaus

Diese Abneigung würden Frieder, Höppner, Vera, Cäcilie, Pauline und Harry vermutlich ebenfalls teilen. Denn sie sind widerständig und renitent, ihr Leben soll keinesfalls nach Schema F ablaufen. Gemeinsam sind sie jene sechs Jugendliche, die zeitweise in einer Wohngemeinschaft im Auerhaus leben. Das Auerhaus gehörte Frieders Großvater und steht mitten in einem Dorf am Fuße der Schwäbischen Alb. Jede/r von ihnen hat seine/ihre ureigenen Beweggründe, weshalb er/sie von Zuhause ausziehen möchte, doch gemeinsam wollen sie auf Frieder aufpassen, der versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Die Unkenntnis der englischen Sprache von Bauer Seidel gab der WG ihren Namen – Auerhaus. Dort leben, lieben, lachen, lesen – ja, das tun sie auch – und lernen die Freunde, gehen zur Schule oder nicht, spielen mit dem Feuer, der Staatsgewalt, übernehmen Verantwortung, hauen auf den Putz und pfeifen auf die Alten.

Überraschende Gemeinsamkeiten mit der Generation Babyboomer

Eine gute Zeit haben sie im Auerhaus, prall gefüllt mit dem, was zu den Entwicklungsaufgaben junger Menschen gehört, egal ob sie, wie Frieder und Freunde, zur Generation Babyboomer gehören oder zu den Digital Natives der Generation ?, vorschnell gerne als Generation Z bezeichnet. Der Soziologe Klaus Hurrelmann attestiert ihnen Gemeinsamkeiten mit der Generation Babyboomer und vermutet, dass sie eine sein könnte, „die nachdrücklich auf ihren Ressourcen und ihren Rechten besteht und nach Mitteln und Wegen sucht, diese mit offenem Visier zu erstreiten“. Womit sie Frieder, seinen Freunden und ihren Fragen ganz ähnlich sein dürften. Denn hintergründig spricht Bov Bjerg nichts weniger als die zentralen Entwicklungsthemen an, mit denen sich Heranwachsende jeder Generation auseinandersetzen müssen: 2 Pennac, Daniel: Wie ein Roman. Köln: KiWi 2004. S. 13 3 Hurrelmann, Klaus/Albrecht, Erik: Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert. Weinheim: Beltz, 2014. S. 26 4 ebd., S. 27

  1. Die Frage nach der Berufswahl, um ein sinnstiftendes und finanziell selbstständiges Leben führen zu können.
  2. Die Ablösung vom Elternhaus. In partnerschaftlichen Beziehungen Verantwortung zu übernehmen bis hin zur Gründung einer eigenen Familie.
  3. Kurz- und langfristig mit Geld umgehen zu können, die eigene Rolle als Konsument, Mediennutzer und wirtschaftlich Handelnder zu finden.
  4. Die Rolle als sozial engagierter und politischer Bürger mit eigener Wertorientierung anzunehmen.

Mit offenem Visier stellen sich Frieder und die anderen d(ies)en Fragen, probieren sich dabei aus, finden und verlieren sich. Ihre Erfahrungen im Auerhaus kann ihnen niemand nehmen. Diese nehmen sie mit, ins Leben und den Tod, reifen an ihnen und wissen – wie Frieder – „alles war gut“.

Lesen fürs Leben im Deutschunterricht

Ob Schülerinnen und Schüler für die Auseinandersetzung mit Frieder und seinen Freunden offen sind, wissen wir nicht. Die Antwort erfahren wir nur, wenn wir es ausprobieren. So, wie jugendlicher Widerstand Neues entstehen lässt, können neuere Literatur und der veränderte Umgang mit ihr neues literarisches Lernen ermöglichen und zu der Erkenntnis führen, dass das, „was man theoretisch richtig findet“6, mitunter ganz nah dran sein kann an dem, was praktisch gut für einen ist. So kann man Schülerinnen und Schülern für ihr eigenes Leben lesen lassen, nicht nur für die Deutschnote.

Zur Reihe Selbst(er)findungen

Die Lektürenreihe Selbst(er)findungen präsentiert aktuelle Texte, in deren Mittelpunkt das Suchen und (Er)Finden eigener Wege zum Erwachsenwerden stehen. Literatur, die Heranwachsende begeistert und deren Erfahrungen unmittelbar berührt.

Bov Bjerg
Auerhaus
168 Seiten
978-3-12-666708-1