von Gabriele Mertens

Camus’ L’Hôte ist seit Jahrzehnten ein Klassiker des Französischunterrichts der Oberstufe. Jacques Ferrandez verhalf ihm vor wenigen Jahren zu neuer Aufmerksamkeit durch seine Adaption als Bande dessinée. Aktuell ist L’Hôte in Baden-Württemberg im Rahmen des Themas Différentes approches du monde auf die Liste der Pflichtvorgaben gesetzt worden. Doch welches Potenzial hat L’Hôte für den Französischunterricht heute?

Die Handlung der Novelle nimmt ihren Ausgangspunkt in einer Zumutung: Der Gendarm Balducci übergibt dem Lehrer Daru einen „Araber“ mit dem Auftrag, ihn der Justizbehörde der französischen Kolonialmacht auszuliefern. Die gewöhnliche Ordnung der Dinge gilt also nicht mehr; politische Unruhen dienen als Begründung dafür. Sie bilden den Rahmen des äußeren und inneren Konflikts, der den Kern des Geschehens ausmacht: Wie soll Daru sich zu diesem Auftrag verhalten? Muss er, Français d’Algérie wie Balducci, der Weisung entsprechen oder sich ihr vielmehr widersetzen? Etwa aus der ethischen Pflicht dem ihm anvertrauten Gast gegenüber oder weil er dem anderen die Freiheit der Entscheidung zubilligen will? Solche Erwägungen führen auf vielfältige Pfade, historischpolitische, biographische, philosophische, immer aber auch zu einer den Leser selbst betreffenden Suche nach handlungsleitenden Maßstäben. Denn das Handeln Darus führt in die Tragödie und auf die Frage nach dem Warum gibt es keine einfache Antwort.

Die Figuren der Novelle

Nur drei Figuren tragen das Geschehen. Mit dem Lehrer Daru stellt Camus einen ambivalenten Charakter in den Mittelpunkt der Novellenhandlung. Menschlichkeit kennzeichnet ihn ebenso wie hilflose Wut, Gastfreundschaft gegenüber dem ihm Anvertrauten steht neben Ignoranz bei der Wahrnehmung des Fremden. So bleibt die Figur des Lehrers fragwürdig in ihrem Verhalten und verweigert sich in ihrer Verschlossenheit einer schnellen Identifikation. Gerade dadurch aber lädt sie zu differenzierter Betrachtung ein. Der Gendarm Balducci entspricht weit eher gängigen Erwartungen und bildet so die Folie, von der die Hauptfigur sich abhebt. Indem Camus ihm jedoch menschliche Züge verleiht, vermeidet er gleichwohl eine vereinfachende und klischeehafte Kontras tierung. Die wesentlichen Merkmale der Figur des „Arabers“ sind Namenlosigkeit und Negativität. Ein kritisches Hinterfragen dieser auch in anderen Werken Camus‘ zu beobachtenden Sichtweise der „Indigènes“ kann gewinnbringend mit biographischen Informationen verknüpft werden. Alle drei Figuren bleiben in ihrer Zeichnung umrisshaft. Der Leser kann diese und andere Leerstellen mit seiner Vorstellung füllen.

Lesemotivationen

Ungewissheit auf verschiedenen Ebenen sorgt für Spannung. Welchen Verlauf wird die Nacht nehmen, in der Gastgeber und Gast eine Zwangsgemeinschaft bilden? Hat sich im Moment des Aufbruchs tatsächlich jemand in der Nähe der Schule aufgehalten und was bedeutet dies? Spannung erzeugt aber auch die Dramatik des inneren Konflikts. Wie wird Daru sich entscheiden? Und worauf sein Handeln gründen? Die in der Beschäftigung mit diesen Fragen liegende Sinnkonstruktion erfordert und fördert eine aktive Lesehaltung. Der geringe Textumfang begünstigt eine Beschäftigung mit der verdichteten Schreibweise und damit die Entwicklung übertragbarer textanalytischer Kompetenzen. In der Verknüpfung der Novellenhandlung mit einer vertiefenden Erarbeitung von Themenfeldern kann die lebensweltliche Relevanz des unterrichtlichen Handelns akzentuiert werden. Dass das Geschehen in historisch und geographisch wenig bekannte Welten führt, eröffnet die Chance der Differenzerfahrung und damit des interkulturellen Lernens.

Zwar bietet der in der kolonialen Vergangenheit Frankreichs verankerte Text keine vordergründige Aktualität. Doch dient die Beschäftigung mit Camus‘ Novelle insofern dem Verständnis der Gegenwart, als sie den Horizont des Dahinter- und Darunterliegenden öffnet, das bis heute weiterwirkt, politisch wie gesellschaftlich. Auf literarisch eindrucksvolle Weise belegt dies der mit dem Prix Goncourt des Lycéens 2017 ausgezeichnete Roman „L‘ Art de perdre“ von Alice Zeniter, der sich aus der Perspektive der Enkelin eines 1962 nach Frankreich emigrierten „Harki“ den Fragen der Zugehörigkeit und der Suche nach der eigenen Identität widmet. Diese Fragen stehen auch im Zentrum der 1957 erschienenen Novelle Albert Camus‘.

Ernst Klett Sprachen bietet zu L’Hôte umfangreiche Unterrichtsmaterialien an.

Im Rahmen der Reihe Mein Abi Französisch sind Anfang 2018 ein Schülerarbeitsheft (das die Novelle als herausnehmbare Lektüre enthält) und ein Lehrerbuch erschienen. Außerdem ist die BD-Fassung der Novelle erhältlich. Alle Komponenten gibt es auch in preisgünstigen Setkombinationen.

Mehr Informationen unter www.klett-sprachen.de/mabif

Jacques Ferrandez, Albert Camus
L’Hôte
Bande dessinée
62 Seiten
978-3-12-591559-6

Schülerarbeitsheft
inkl. herausnehmbarer Novelle L’Hôte
978-3-12-592327-0

Set für Schüler
Schülerarbeitsheft + BD
978-3-12-592328-7

Lehrerbuch zum Schülerarbeitsheft
978-3-12-592326-3

Lehrerset
Schülerarbeitsheft
Lehrerbuch
X681286

Lehrerset XL
Schülerarbeitsheft
Lehrerbuch + BD
X681287