von Ulrike C. Lange

Der Roman Petit pays von Gaël Faye war die Entdeckung der rentrée littéraire 2016. Seitdem hat er viele Preise gewonnen, allen voran den Prix Goncourt des lycéens.

Das Erstlingswerk des bis dahin als Rappeur bekannten Autors Gaël Faye erzählt aus der Sicht des zehnjährigen Gaby, der mit seiner ruandischen Mutter und seinem französischen Vater in Burundi lebt, von seinem zunächst behüteten Leben mit seiner kleineren Schwester Ana. Er wächst privilegiert mit Bediensteten auf, geht in die französische Schule in Bujumbura und wohnt in einem besseren Viertel der Stadt. Mit seinen Freunden trifft er sich in der impasse hinter dem Haus in einem alten VW-Kombi, spielt zum Zeitvertreib am Fluss und klaut mit den Jungs Mangos bei den Nachbarn. «

La poésie n’est pas de l’information. Pourtant, c’est la seule chose qu’un être humain retiendra de son passage sur terre. »

(14)

Der Ton des Textes ist dabei nahezu lyrisch und immer wieder auch witzig, etwa wenn Gaby seiner Brieffreundin Laure aus Orléans zu Beginn der Lektüre seinen Berufswunsch nennt: « Plus tard, quand je serai grand, je veux être mécanicien pour ne jamais être en panne dans la vie. » (47)

Doch schon bald wird Gaby aus der Idylle gerissen – durch die Trennung seiner Eltern, durch Krieg, Zerstörung und den Völkermord in Ruanda und Burundi 1994. Er gerät in eine zunehmend schwierige Situation, in der aus jugendlichen Eifersüchteleien ein Kampf um Leben und Tod wird, in dem es unmöglich ist, neutral und unbeteiligt zu bleiben – auch für Kinder und Jugendliche, wie Gaby feststellen muss: « Il était comme nous, comme moi, un simple enfant qui faisait comme il pouvait dans un monde qui ne lui donnait pas le choix » (143).

Identitätsfindung und Empathie

Aber warum sollen deutsche Schülerinnen und Schüler einen Roman, in dem es um den Völkermord in Ruanda geht, auf Französisch lesen? Ist das nicht viel zu weit weg von unseren Jugendlichen? Angesichts des im Hinblick auf das Abitur bereits umfangreichen Programms ist dies eine durchaus berechtigte Frage.

Nun, der Roman bietet weit mehr als die Geschichte eines ‚kleinen Landes‘ inmitten der Kriegswirren. Die mitreißend erzählte Iden- 1 Die Seitenzahlen beziehen sich auf die annotierte Klett-Ausgabe 978-3-12-597371-8 titätsfindung des jugendlichen Protagonisten macht Empathie, Identifikation und auch Abgrenzung gegenüber der Hauptfigur möglich und lässt Raum für die Reflexion eigener Konflikte und Fragen. Gabys Welt zeigt, dass das Leben eben nicht in Schwarz und Weiß zu fassen ist, sondern dass es unzählige Graustufen und Grauzonen gibt. Im Rahmen einer Fragestellung zur conception de vie und vor der Folie eigener visions d’avenir lässt sich der Roman äußerst gewinnbringend im Unterricht lesen.

Das im Frühjahr 2018 erscheinende Dossier pédagogique geht genau von dieser zentralen Fragestellung aus – der Frage nach der Identität, der conception de vie. Es bietet umfangreiches Material, differenzierende Aufgaben, kommunikationsfördernde Methoden und Zusatzinformationen, die die Lektüre des Romans im Unterricht begleiten und erleichtern.

Dabei ist es der Roman selbst, der eine Verbindung schafft zur Welt unserer Lernenden: In einer kurzen Rahmenhandlung zu Beginn und am Ende des Textes blickt der erwachsene Gaby, der mittlerweile seit vielen Jahren in Paris lebt, auf seine Kindheit zurück und schlägt von dort die Brücke zur aktuellen Situation in Europa, wenn er sich beim Anblick der Flüchtlingsströme in den Medien gegen jegliches allzu einfaches Schubladendenken wehrt: « Les images disent le réel, pas la vérité » (14).

Gaël Faye, romancier mais aussi rappeur

Gaël Faye, der wie sein Protagonist eine ruandische Mutter und einen französischen Vater hat, zeigt auch in seiner Musik die Problematik einer binären Weltsicht auf: « Le métis n’a pas sa place dans un monde dichotomique », « Je suis mulâtre, ébène albâtre voulant abattre le miroir » (in „Métis“, von dem Album Pili Pili sur un croissant au beurre, Motown France 2013). Seine Musikstücke können die Lektüre des Romans illustrieren und erweitern. So zeigt etwa der Musikvideoclip Petit pays (2013) wunderbare Bilder von Burundi, die die lesend zu erschließende Welt Gabys sinnfällig machen. Und die Arbeit mit den paroles von „Métis“ und „A France“ (2013) kann sinnvoll zu den Themenbereichen Diversität und Identität eingesetzt werden. Fayes Minialbum Rythmes et botanique (Caroline Records 2017) führt diese Ideen weiter, wenn er mit Paris métèque die Ville lumière neu ausleuchtet. Musikalisch ist das Werk des Rappeurs nicht nur für Schülerinnen und Schüler in seiner Vielfalt ansprechend. Für das Frühjahr 2018 ist ein neues Album angekündigt und auch ein neuer Roman wird kommen, sagt der Autor, der zur Zeit in Ruanda lebt und nun über Frankreich schreibt.

Lesen zum (Über-)Leben

Petit pays ist nicht nur ein äußerst lesenswerter Roman, es ist auch eine Hommage an die Welt der Bücher, an die Kraft des Lesens, das innere Welten der Imagination entstehen lässt und so zum Überleben verhilft, während draußen die Gewalt der Zerstörung wütet, wie Gaby nur allzu sehr spürt: «

Grâce à mes lectures, j’avais aboli les limites de l’impasse, je respirais à nouveau, le monde s’étendait plus loin, au-delà des clôtures qui nous recroquevillaient sur nous-mêmes et sur nos peurs. »

(155)

Ein wunderbares Buch, dessen Geschichte uns mit einer kraftvollen und gleichzeitig sehr zarten Sprache in ihren Bann zieht, das die besondere Mühe des fremdsprachlichen Lesens reich belohnt.

Wir wünschen Ihnen: Bonne lecture.

Gaël Faye
Petit pays
199 Seiten
ISBN 978-3-12-597371-8

Petit Pays
Dossier pédagogique
64 Seiten
978-3-12-597372-5