von Jochen Lohmeyer (Lehrer, Verlagsredakteur, Kursleiter)

In Ausgabe 1/2017 des Lesen-fürs-Leben-Magazins schreibt Susanne Heinz: „… dass alle literarischen Texte, auch ohne Einbezug von ergänzenden Bildern, Filmausschnitten oder Hörbuchfassungen, prinzipiell von jedem Leser in unterschiedlicher Art und Weise visualisiert und multimodal imaginiert werden.“

Auf den ersten Blick scheint diese Feststellung trivial zu sein. Auf den zweiten Blick sollten wir uns alle fragen, ob wir diesem Sachverhalt unter dem Druck von vorgegebenen Lernzielen angemessenen Raum im Unterricht gestatten. Berücksichtigen wir im Unterricht und gemeinschaftlichen Lesen genug die Tatsache, dass es keinen darstellenden oder erzählenden Text gibt, der nicht in jedem Individuum verschiedene und einmalige Gedanken und Bilder im Kopf erzeugt? Es ist zwar akzeptiert, dass Musik und Melodien (und selbst Filme!) verschiedene Emotionen, Assoziationen und eben Bilder im Kopf erzeugen, aber dass dasselbe für Sprache und Texte zutrifft, scheint in Lehrplänen und vielleicht auch im Unterricht nicht immer hinreichend berücksichtigt zu werden.

Welche Schätze, die man bergen könnte, wenn denn genügend Zeit wäre und wenn die Lernenden nicht selbst Texte im Glauben rezipierten, dass es zu allem die richtige und falsche Interpretation gäbe (und man die richtige sicherheitshalber kauft). Haben wir den Mut dazu zu ermuntern, dass jede Wahrnehmung, jede Idee, jedes Bild und jede Assoziation wichtig und mitteilenswert ist?

Gelingt es jedoch, dies alles einzubeziehen, erfahren die Lernenden, dass ihre eigene Wahrnehmung wichtig ist, dass es oft keine einfachen Antworten gibt und dass sie selbst das Medium sind, durch das der Text überhaupt erst zu leben beginnt.

Wunsch und Wirklichkeit

Die Frage ist aber, wie man diese hehren Ziele unter den Bedingungen des alltäglichen Unterrichts erreichen kann. Denn wir wollen die SuS ja zum Lesen in der Fremdsprache ermutigen und unbedingt verhindern, dass sie mit dem geheimen Schwur „Nie wieder!“ nach Hause gehen.

Das Mengenproblem

Die Länge einer Lektüre übersteigt die Länge von Lehrwerkstexten meist um ein Vielfaches. Wie leicht ist es da, die Flinte ins Korn und das Buch in die Ecke zu werfen. Wie natürlich ist es, den Überblick zu verlieren, wenn man durchhält, aber eine so große Fülle unbekannter Wörter ertragen muss. Und wie einleuchtend ist es, wenn den Jugendlichen das Buch dann nichts oder nur wenig sagt. Auch dies sollten die Lernenden selbstverständlich vertreten dürfen – doch man hofft natürlich, in dem schwer überschaubaren Angebot an (Jugend-)Literatur die richtige Wahl getroffen zu haben.

Lektüre lohnend machen

Schwerpunkte setzen
Als Unterrichtende/r haben Sie stets die Möglichkeit, Schwerpunkte zu setzen und die Lernenden auf eine neue Fährte zu führen, wenn Sie meinen, dass die Lesewahrnehmung Ihrer SuS zu substanzlos oder oberflächlich war. Picken Sie Textstellen heraus, die Ihnen beispielhaft zu sein scheinen. Lernende nehmen es immer als hilfreich wahr, wenn ihr umfassendes Leseerlebnis auf wenige Zeilen kondensiert wird.

Weniger ist mehr!
Verzichten Sie darauf, alle enthaltenen Themen anzusprechen und auszuquetschen. („Das Buch hat mir eigentlich gefallen, aber nach dem Unterricht konnte ich es nicht mehr sehen!“).

Schlüsselfragen finden
Machen Sie sich die Mühe, nach den aufschließenden Fragen zu suchen, statt die SuS mit Operatoren zu bombardieren.

Keine Sorge um die Frisur
Versuchen Sie, den SuS ein wenig recht zu geben, auch wenn manchmal geradezu Haarsträubendes geäußert wird. Aber das ist ja eventuell gut für unsere Kopfhaut – oder stimuliert sogar den Kortex.