von Daniela Anton und Sabrina Dowie

Es ist allseits bekannt, dass man Schülerinnen und Schüler am leichtesten mit lebensnahen Themen zum Lesen motiviert und mit Romanen, in denen die Protagonisten gleichen Alters sind und ihre Interessen und Vorlieben teilen. So weit, so gut.

Was aber, wenn die jungen Leserinnen und Leser von der ersten Zeile an mit Text, Bildern und Zeichnungen, nicht nur mit dem plot sondern auch vor allem mit inneren Bildern, Gedanken und Emotionen einer multimodalen Erzählstimme konfrontiert werden, die nicht nur als Erzähler fungiert, sondern ebenso als Grafiker, Designer, Autor und Vermittler anderer Texttypen? Dann befinden sie sich ganz unmittelbar und plötzlich in einer ganz anderen, individuellen Welt von Charakteren und begleiten diese bei ihrem individuellen world-making. Aus dem Akt des Lesens wird automatisch ein Akt des Sehens, des Verstehens und der Empathieschulung, wodurch derartige multimodale Romane dem Ziel sehr nah kommen, gerade Leseunerfahrenen in der Fremdsprache eine Lesen-fürs-Leben-Erfahrung zu bieten und sie für das Lesen in der Fremdsprache zu begeistern.

Doch was genau verbirgt sich hinter dem schillernden Begriff des multimodalen Romans? Und wie kann er gewinnbringend im Unterricht eingesetzt werden?

Die Erzählstruktur kreativ durchbrechen

Grundsätzlich sind multimodale Texte dadurch gekennzeichnet, dass die Erzählstruktur durch nonverbale und nichterzählende Elemente durchbrochen und ergänzt wird. Normalerweise handelt es sich dabei insbesondere um grafische Anteile wie Comicpassagen, Fotos, Diagramme oder Zeichnungen; es finden sich jedoch ebenfalls Briefe, Zeitungsartikel, Listen, Tabellen oder sogar Werbeanzeigen. Oft wird hier auf unterschiedliche Schriftarten und typografische Stile zurückgegriffen, um die Wirkung der Worte zu unterstützen oder realweltliche Kommunikation zu simulieren. Solche Bild-Text-Verbindungen sind für Kinder und Jugendliche im visuellen Zeitalter allgegenwärtig. Die Fähigkeit, Bilder zu sehen, zu lesen und zu interpretieren und darüber hinaus eigene Wahrnehmungen, Gedanken und Sichtweisen visuell darzustellen, wird durch die Behandlung multimodaler Romane im Unterricht geübt und gestärkt.

Lektürearbeit mit allen Sinnen

Multimodale Texte findet man für alle Altersgruppen. Besonders interessant sind sie jedoch für die Unter- und frühe Mittelstufe, da sie den Lese- und Sehgewohnheiten dieser Gruppe auf vielfache Weise Rechnung tragen. Während Comics oft nicht den Weg in den Unterricht finden, da sie als unliterarisch abgelehnt werden, und Romane aufgrund ihrer Länge und Komplexität häufig nicht für jüngere Klassen geeignet sind, stellen multimodal erzählte Geschichten mit ihrer Mischung aus Text und Bild eine optimale Möglichkeit für den Einstieg in die Arbeit mit einer Ganzschrift dar, da sie die Vorteile beider Genres vereinen. Dabei ist mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler hervorzuheben, dass

  • die Text-Bild-Kombination das Textverstehen unterstützt;
  • die eingebundenen Bilder ein schnelles Voranschreiten ermöglichen, weshalb es zu motivierenden Leseerlebnissen kommt;
  • eine Beschäftigung mit Stil- und Gattungsfragen angeregt wird, da die Romane neben einem meist linearen Erzählstrang viele unterschiedliche Texttypen integrieren;
  • die Vielfalt an Text- und Bildtypen sowohl reluctant und struggling readers anspricht, als auch Herausforderungen für Leseratten bereithält.

Zwei Texte, die den Kriterien multimodaler Romane entsprechen und die gewinnbringend in der Unter- und frühen Mittelstufe eingesetzt werden können, sind The Brilliant World of Tom Gates von Liz Pichon sowie Sherlock Holmes and the Disappearing Diamond von Sam Hearn.

Beide Texte sind durch ihre witzige und spannende Handlung und das ansprechende Design nicht nur Garanten für eine hohe Lesemotivation, sondern bieten unmittelbare Zugänge zur Lebenswelt von Tom Gates und den kriminalistischen Ermittlungen von Sherlock und seinen Freunden.

Making it my book! Vom Leser zum (Um)Gestalter des Textes

Die vielseitige Gestaltung der beiden Bücher mit ihrer Mischung aus unterschiedlichen Texten wie Erzählpassagen, Comics, Briefen oder Chatnachrichten suggeriert Authentizität und erlaubt individuelle Zugänge zum Text. Und es eröffnen sich viele motivierende Möglichkeiten, direkt an der Gestaltung des Rezeptionsprozesses teilzuhaben. Dies kann bei der Imitation des Schreibstils und Schriftbildes beginnen und bis zur Umarbeitung und Ergänzung der Geschichten von Tom und Sherlock führen.

Oberflächlich resultiert diese Imitation und Ergänzung der Textund Bildinhalte zunächst in eigenen doodles oder Textprodukten, die beispielsweise das Verfassen von Entschuldigungsschreiben für und von Tom Gates oder den schreibenden Austausch von Chatroom Nachrichten mit einem Partner erfordern. Im Hintergrund beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler jedoch implizit oder explizit mit Textgattungen, Stilebenen und ästhetischen Kriterien, sodass neben dem Wortschatzaufbau auch grundlegende Arbeit an der Entwicklung eines Stil- und Gattungsbewusstseins geleistet wird – die auch noch Spaß macht!

Vom Scrapbooking bis zum Standbild – nichts ist unmöglich

Dass beim Lesen Bilder im Kopf entstehen, ist allseits bekannt. Die vorhandenen Bilder in Sherlock und Tom Gates regen jedoch darüber hinaus dazu an, sie auszumalen und zu erweitern, leere Räume zu füllen, Texte zu ergänzen und eigene Charaktere einzufügen. Dies kann genutzt werden, um eigene Textprodukte zu ergänzen – und so das Buch zum ganz persönlichen Werk zu machen. Da die Texte an sich bereits einem Scrapbook ähneln, das unterschiedliche Materialien und Inhalte vereint, liegt es nahe, weitere Bilder, Aufkleber, Charaktere, Klappen, Briefe, E-Mails, Chats, Nebenhandlungen, Geheimbotschaften oder Comics zu ergänzen oder die Lerner sogar selbst zu einem Teil der Handlung werden zu lassen. Dadurch entstehen individuelle kreative Produkte, die neue Lesarten ermöglichen und die Schülerinnen und Schüler auf eine Art einbeziehen, die im Unterricht sonst nur selten umsetzbar ist.

Außerdem ergibt sich mannigfach die Gelegenheit, mit den Schülerinnen und Schülern theaterpraktisch aktiv zu werden. Gelesene Passagen und Sequenzen können durch Standbilder oder kleine Rollenspiele umgewälzt und nachgespielt werden und bis hin zum Einüben eigener Dialoge, Situationen und einer alternativen Handlung führen. Beide Lektüren bieten viele Rollen, wie etwa die der verrückten Granny Mavis, Toms Schwester grumpy Delia oder eines Detektivs oder Anwalts im Rahmen einer Pressekonferenz zum Sherlock Holmes Fall, die den Schülerinnen und Schülern großen Spaß bereiten. Und so fördern Sie ganz nebenher das freie Sprechen in der Fremdsprache.

Liz Pichon
The Brilliant World of Tom Gates
238 Seiten
978-3-12-578221-1

The Brilliant World of Tom Gates
Teacher’s Guide
72 Seiten
978-3-12-578222-8

Sam Hearn
Sherlock Holmes and the Disappearing Diamond
147 Seiten
978-3-12-578225-9

Sherlock Holmes and the Disappearing Diamond

Teacher’s Guide
67 Seiten
978-3-12-578226-6