von Uta Grasse

Anfangsunterricht und Literatur – ein Widerspruch?

Noch relativ junge Schüler für das Lesen literarischer Texte zu begeistern ist in der Muttersprache schon eine Herausforderung, wie soll das also ausgerechnet in der Fremdsprache Französisch gelingen? Wir Lehrkräfte stehen damit vor dem scheinbar unlösbaren Problem, den Spagat zwischen noch recht bescheidenen Sprachkompetenzen unserer Schülerinnen und Schüler einerseits und der gelungenen Wahl eines literarischen Textes andererseits zu meistern, der weder banal und einfallslos noch sprachlich und inhaltlich überkomplex sein sollte. Kann ein solches Vorhaben überhaupt gelingen?

Damit statt der angestrebten Leselust nicht der Lesefrust aufkommt, sollten es nämlich im Anfangsunterricht generell kurze, überschaubare Lektüresequenzen sein, die die Lehrbucharbeit ergänzen, mit dem Schwerpunkt auf der Anwendung und der aktiven Umsetzung gelernter Lexik und Strukturen. Dafür etwas Passendes zu finden, ist nicht so einfach.

Mit den Histoires minute gelingen die ersten Gehversuche des literarischen Lesens ganz leicht

Als ich vor einigen Jahren das erste Mal in den Histoires minute von Bernard Friot geblättert habe, wusste ich ziemlich schnell: Ja, damit kann es gehen! Und habe sofort herumprobiert…

Überzeugt hat mich neben den ungewöhnlichen Charakteren und deren Handlungen fernab der üblichen Klischees von Anfang an auch die ästhetische Qualität der Illustrationen. Im Anfangsunterricht geht es kaum ohne, denn sie unterstützen das Textverständnis und lockern auf. Die hingestrichelten und dennoch kunstvollen Zeichnungen des kongenialen Illustrators Jacques Azam führen quasi ein Eigenleben mitten im Text und machen den besonderen ästhetischen Reiz der Originalausgabe aus. Deshalb war für mich auch sofort klar: Diese Geschichten dürfen nicht ihrer Seele beraubt werden, Text und Bild gehören als Einheit unbedingt zusammen! Dabei war es zunächst eher eine Bauch- als eine Kopfentscheidung, Friots Histoires minute im Unterricht einzusetzen. Die Fülle an Themen und die lustigen Illustrationen haben – finde ich – nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für uns von Uta Grasse Unterrichtende einen hohen Aufforderungscharakter, nicht zuletzt wegen der vorangestellten Zutatenliste. So sind mir immer wieder neue Ideen gekommen, wie ein, zwei oder drei der Geschichten in den Unterricht eingeflochten werden können, und was man alles damit machen kann. Letztendlich war es dann die positive Resonanz, die mich in dem Vorhaben bestärkt hat, neben den bewährten Ideen auch immer mal wieder etwas Neues auszuprobieren.

Klein, aber oho – typisch Friot!

Bernard Friot und seine Werke sind kein Geheimtipp mehr, als hochgeschätzter Schriftsteller ist er seit vielen Jahren in unseren Schulen angekommen. Gerade seine Histoires pressées und Foulard sind in den Französischkollegien des Landes sehr beliebt, und sein autobiographisch geprägter Roman Un autre que moi war vor fünfzehn Jahren bei der ersten Runde des Prix des lycéens allemands mit im Rennen. Da er aber nicht nur für Jugendliche und Kinder schreibt, sondern auch mit ihnen, sind auch Texte für diejenigen entstanden, die bislang keinen Zugang zum Lesen gefunden haben. Und genau wegen dieser Schülernähe eignen sich Friots Histoires minute so gut als authentische Lektüre im Anfangsunterricht. Eines vorweg: Lassen Sie sich von der Textlänge seiner Geschichten nicht täuschen, denn sie sind alles andere als banal, sondern bieten überraschende Wendungen, viel schrägen Humor und durchbrechen so häufig die üblichen Lesererwartungen. Seine stilistisch wie inhaltlich gelungene Kurzprosa bietet sich für das stille Lesen genauso an wie fürs Vorlesen, das Weiter- und Umschreiben und die Umsetzung in kleine Rollenspiele. Die besondere Würze sind die ingrédients auf der ersten Doppelseite, danach kommt dann die eigentliche Geschichte auf den nächsten zwei Seiten. Das erzeugt beim Lesen Vorerwartungen – und immer wieder kommt es ganz anders! So rollt der Autor seiner Leserschaft förmlich den roten Teppich aus, es ihm gleich zu tun… Dabei bleibt Raum für die Ausgestaltung der Erzählungen wie bei Une histoire, Grenzen zwischen Realität und Fantasie werden verwischt wie bei Fusée, Je rêve? oder Potion magique, Rollenmuster auf den Kopf gestellt wie bei Orage, Ängste neutralisiert wie bei Loup oder Cauchemar. Und Potion magique und Barbie lassen auch einmal die andere, fremde, böse Seite einer Persönlichkeit zu, die nicht überspielt oder einfach außen vor gelassen wird.

À la carte oder ein ganzes Menü? Sie haben die Wahl …

Die Konzeption meiner Handreichung fußt auf vier Ateliers, die unterschiedliche didaktisch-methodische Schwerpunkte setzen. Vielfältige Variations- bzw. Kombinationsmöglichkeiten erlauben nicht nur eine an die Lerngruppe angepasste Schulung unterschiedlicher Kompetenzbereiche sondern bieten auch die Möglichkeit, innerhalb der ersten drei Lernjahre bequem in die einzelnen Ateliers ein- und auch wieder auszusteigen. In einer Boîte à outils sind zusätzlich Materialien zusammengestellt, die universell in den einzelnen Ateliers zum Einsatz kommen. Dabei spielt es keine Rolle, ob Sie sich für eines der vorgestellten Leseprojekte entscheiden oder aber lediglich eine oder mehrere Histoires minute als lecture en classe behandeln, denn bei der thematischen Vielfalt der kurzen Texte bieten sich durchaus verschiedene Zugänge an.

  1. Mit dem Atelier 1 machen die Schülerinnen und Schüler bereits Ende des ersten Lernjahres Bekanntschaft mit ersten authentischen Texten und lernen auch methodisch einiges dazu.
  2. Das Atelier 2 unterstützt Sie in Ihrer Unterrichtsorganisation dahingehend, dass Sie im zweiten Lernjahr in zwei Phasen insgesamt fünf bis sieben Geschichten mit Ihrer Lerngruppe lesen: In Phase 1 steht das gemeinsame Lesen von drei Geschichten und die schrittweise Vermittlung der notwendigen Lernmethoden im Vordergrund, d.h. die Arbeit mit Wortspuren und die Textverständniskontrolle mit einer Vrai-Faux-Aufgabe oder einem Satzpuzzle. Diese lecture en classe bildet die Arbeitsbasis, die Ihre Klasse auf die anschließende lecture individuelle vorbereitet. Ergänzend gibt es Materialien und Impulse, die kleine Sprech- und Schreibanlässe rund um die jeweilige Geschichte schaffen. Passend zugeschnittene Leistungsmessungsvorschläge machen anschließend den Lernerfolg transparent. Und dann sind Ihre Schülerinnen und Schüler fit für das eigenständige Lesen à la carte in der binnendiffenrenzieren Phase 2 des Ateliers – im eigenen Tempo.
  3. Mit dem Atelier 3 fördern Sie Ende des zweiten Lernjahres (oder im Verlauf des dritten) über einen kreativen Textumgang die Leselust, ein Angebot an handlungs- bzw. produktorientierten Vorhaben schafft Freiräume zum fantasievollen Umgang mit dem Text. Bei den hier zusammengetragenen Vorschlägen zur weiterführenden Arbeit mit den Histoires minute stehen also vor allen Dingen die literarischen Aspekte der Geschichten im Vordergrund, denn trotz der geringen Textlänge, des reduktionistischen Stils und der einfachen Lexik – oder vielleicht gerade deswegen! – regen sie zum kreativen Umsetzen und Verarbeiten an. Es sind aber auch die Illustrationen Jacques Azams sowie formale Aspekte, die die Fantasietätigkeit anregen, also die Zutatenliste, Stilmittel wie Reihung und Wiederholung und die immer gleiche, streng gegliederte äußere Form der Geschichten mit zwei im Aufbau sich stets wiederholenden Doppelseiten.
  4. Kurze Geschichten mit Witz und Tempo eignen sich auch vorzüglich zum Vorlesen – und einen Text so vorlesen zu können, dass er das Publikum in den Bann zieht, ist eine Kunst! Und nur die Person, die den Text tatsächlich inhaltlich durchdringt und ein paar wichtige Techniken beherrscht, kann ihr Publikum packen. Das Atelier 4 unterstützt Sie, einen schulinternen oder vielleicht sogar schulübergreifenden Vorlesewettbewerb zu initiieren und bietet die notwendigen Basismaterialien für die gezielte Schulung der Aussprache und für eine souveräne Vortragsweise.

Liebe Kollegin, lieber Kollege, ich lade Sie ganz herzlich ein, es einmal mit ein oder zwei Histoires minute zu probieren und bin mir sicher, dass Sie von Ihren Klassen bald gefragt werden: „Darf’s ein bisschen mehr sein?“.

Très bonne lecture!
Ihre Uta Grasse

Uta Grasse, Bernard Friot
Histoires minute
Dossier pédagogique von Uta Grasse
Lehrerhandreichung mit Materialien zur Schulung der Lese-, Methoden-, Sprech- und Schreibkompetenz
148 Seiten
ISBN 978-3-12-592145-0

Bernard Friot
Histoires minute
96 Seiten
ISBN 978-3-12-592144-3