von Katharina Kräling & Waltraud Löchel

Die Novela Gráfica El edificio stammt aus den Federn des kolumbianischen Autors Jairo Buitrago und des argentinischen Illustrators Daniel Rabanal und wurde 2014 erstmalig im kolumbianischen Verlag Babel Libros veröffentlicht. Jairo Buitrago hat sich als Autor kinder- und jugendliterarischer Texte, wie z.B. der álbumes Camino a Casa oder Eloísa y los Bichos, im spanischsprachigen Raum bereits einen Namen gemacht. El Edifico ist ein literarischer Text der leisen Töne, der ein großes und vielfältiges Potenzial für den Einsatz im Spanischunterricht bietet.

Zeitgeschichte und eine Geschichte über die Zeit

El edificio erzählt die Geschichte des Señor Levin, einem Uhrmacher, der Ende der 1930er Jahre in Bogotá ankommt, sich dort niederlässt und ein Uhrengeschäft eröffnet. Das Bogotá dieser Zeit ist das „Bogotá de los buenos viejos tiempos“ (Álvarez Umbarila 2015). Das Straßenbild wird geprägt durch Straßenbahnen und nur wenige Autos, die Bewohner der Stadt sind elegant gekleidet und flanieren durch saubere Straßen. Im selben Haus wie Señor Levin lebt auch die junge Lehrerin Señora Blanca, der Señor Levin zugeneigt ist, mit der aber nie eine Bindung entsteht, die über eine nachbarschaftliche Beziehung hinausgeht.

El edificio erzählt, wie die Zeit vergeht. Über die Jahre hinweg wird Señor Levin, der als Uhrmacher Zeit verwaltet, Zeuge der Veränderungen und des Zerfalls seines Gebäudes, aber auch der Stadt. Die Geschichte Señor Levins ist also auch eine über Zeit, darüber, wie Zeit Menschen und Orte verändert und wie sich der Charakter von Zeit wandelt. Im Laufe der Geschichte, die Ende der 1930er Jahre beginnt und in den 1980er Jahren endet, wird aus dem ruhigen und eleganten Flanieren auf Bogotas Straßen ein geschäftiges Treiben und die Stadt trägt Kennzeichen des Verfalls. El edificio blickt auch etwas wehmütig auf den Wandel der Großstadt Bogotá.

Sinnbild dafür ist das Gebäude (el edificio), in dem Señor Levin wohnt und das nicht nur unzählige Mieterwechsel erfährt, sondern auch zunehmend zerfällt, ähnlich wie das einstmals bürgerliche Viertel, in dem es sich befindet.

Die Zeichnungen in El edificio – die Stadt als Protagonistin

Das Gebäude und die Stadt selbst stehen im Mittelpunkt der Zeichnungen. Der Illustrator Rabanal zeichnet die Stadt in dokumentarischem und nahezu fotografischem Stil. Unzählige Details lassen die Leserinnen und Leser in das Leben einer vergangenen Zeit Bogotás eintauchen. Die Bilder sind großformatig und es gibt sogar einige Panoramabilder, die Stadtszenarien auf einer ganzen Doppelseite abbilden. Farblich sind die Bilder in der gelblich-bräunlichen Farbe Sepia gehalten, die den Eindruck alter Fotos oder Postkarten mit Stadtansichten vermittelt und ein nostalgisches Ambiente kreiert. Die Stadt in El edificio fungiert nicht nur als Ort der Erzählung und als Szenario, sondern sie wird zum Protagonisten der Geschichte und erzählt selbst. „Aunque más allá de sus personajes, la protagonista del libro es la ciudad que cambia con el paso del tiempo, que por encima de ser narrada encuentra la forma de narrarse a sí misma en sus calles, en los vestigios del pasado y en el deterioro del presente.“ (Álvarez Umbarila 2015)

Eine ungewöhnliche Freundschaft

Verwoben mit der Geschichte über den Uhrmacher Señor Levin und einem poetischen Blick auf die Zeit ist zugleich die Geschichte einer Freundschaft. Ende der 1980er Jahre bezieht Iván mit seiner Familie eine Wohnung im Haus von Levin und Blanca. Unbewusst verändert Iván das Leben der beiden anderen Protagonisten. Zwischen Iván und Señor Levin entwickelt sich eine Freundschaft. Eines Tages eröffnet Iván seinem Freund, dass er eine Mäusefamilie in seinem Schrank versteckt hält, zu deren Beherbergung er die Schuhe von Señora Blanca gestohlen hat, die vor ihrer Tür standen.

Señor Levin weiß um die finanziellen Probleme, denen seine Nachbarin, Señora Blanca, ausgesetzt ist, und begreift dadurch, warum sie tagelang das Haus nicht verlassen hat. Die gestohlenen Schuhe sind die einzigen, die sie besitzt. Anstatt Iván zu schelten, führt Señor Levin seinen jungen Freund durch die Stadt zu einem Schuhladen, in dem sie gemeinsam ein paar neue Schuhe kaufen, für deren Erwerb er eine Uhr aus seinem Laden veräußern musste. Zwischen den Zeilen erzählt El edificio von der finanziellen Armut von Menschen wie Señor Levin oder Señora Blanca. Mit dem Eintritt Iváns in die Erzählung kommt Farbe in die Erzählung. Weiterhin dominiert Sepia, aber Iván selbst und andere Details in seiner Umgebung sind nun farblich gestaltet und lenken den Blick des oder der Betrachtenden auf diese farblich hervorgehobenen Elemente.

Details entdecken

Eine weitere Besonderheit in der Gestaltung zeigt sich im Einband des Buches: Die ausgeklappte Außenseite bildet eine zeitliche Entwicklung ab. Einerseits sieht man auf der Vorderseite el edificio und die Nachbarhäuser in ihrem Zustand in den 1930er Jahren. Rechts neben dem Gebäude von Herrn Levin befindet sich noch eine Hausruine, an deren Stelle später die Bäckerei La favorita gebaut wird. Die Baugeschichte wird an mehreren Stellen in der Erzählung in den Bildern gezeigt. Die Rückseite des Einbandes zeigt jedoch die bereits gebaute Bäckerei. Beide Bilder werden ausgeklappt zu einem Bild, in dem sich die abgebildeten Häuser und Straßen nahtlos aneinanderschließen und die Illusion einer einzigen zeitlichen Momentaufnahme schaffen. Links steht die neu erbaute Bäckerei, rechts ist die Hausruine, an deren Stelle sie gebaut wurde. Verschiedene Zeitpunkte verschmelzen hier, Zeit gerinnt, bleibt stehen und wird zugleich unendlich. Innen im Einband findet sich eine Zeichnung des berühmten Teatro de San Jorge, vorne in seinen guten Zeiten in den 1930er oder 1940er Jahren und hinten als halbe Ruine. Hier wird der Wandel verdeutlicht, den Zeit mit sich bringen kann.

Das Potenzial von El edificio für den Spanischunterricht

El Edificio richtet sich sowohl an eine jugendliche als auch an eine erwachsene Leserschaft. Als novela gráfica bietet diese Erzählung aus Bild- und Worttext bereits für Fremdsprachenlernerinnen und -lerner zu einem frühen Zeitpunkt ihres Fremdsprachenerwerbsprozesses einen direkten Zugang, der zunächst einmal ohne Sprache erfolgen kann und zugleich eine ästhetische Erfahrung beinhaltet. Der Bildanteil überwiegt gegenüber dem Anteil an verbaler Erzählung und die sequenzielle Bildfolge ermöglicht es, die zentrale Handlung der Geschichte zu erfassen. Obgleich sich erst im Zusammenspiel von Bild und Wort sich die Gesamtbedeutung des Textes ergibt, ist der visuelle Einstieg in die Erzählung wichtig, da er trotz noch geringer fremdsprachlicher Kompetenz ein erstes Verstehen ermöglicht und die Motivation für eine intensive Auseinandersetzung mit dem fremdsprachlichen Worttext und den Beziehungen zwischen Wort- und Bildtext bilden kann. Für die Dekodierung der verbalen wie der bildlichen Texte sollte das selektive und analytisch-inferierende Lesen (vgl. Bergfelder / Caspari 2008: 58) gezielt geschult werden.

Je nach Alter der Sprachenlernerinnen und -lerner können eher die Geschichte des Señor Levin sowie seine Freundschaft mit Iván im Vordergrund stehen, die für jüngere Schülerinnen und Schüler greifbarer ist, oder die Auseinandersetzung mit dem Thema Zeit sowie die Geschichte der Stadt, die ältere Lernerinnen und Lerner mehr ansprechen kann. Auch kulturelle Aspekte und Bogotá als Stadt können in den Fokus gerückt werden. In jeder Altersstufe kann und sollte ein kritischer und kompetenter Umgang mit multimodalen literarischen Texten geübt werden, indem die vielfältigen Formen des Zusammenspiels von Bild und Wort (z.B. Farben, Perspektive, Ausschnitte, Illustrationsstil, Worttext, Gestaltung und Anordnung der Schrift) und die daraus entstehenden Bedeutungen untersucht werden (zum Umgang mit novelas gráficas vgl. auch Bermejo / Vernal Schmidt 2016 oder Elsner 2013). Je nach fremdsprachlicher Kompetenz und Alter können die Hilfen dabei variieren und sowohl die Dekodierung des Textes als auch das Sprechen über den literarischen Text, also die literarische Anschlusskommunikation, zu ermöglichen.

Ein konkreter Vorschlag für den Einsatz von El edificio im zweiten Lernjahr erscheint demnächst in Literaturwerkstatt Spanisch (ISBN 978-3-12-535736-5). Das mehrfach erprobte Modul mit einer genauen Planung und allen Materialien bietet zahlreiche Anregungen für die Auseinandersetzung mit dieser novela gráfica im Spanischunterricht.

Álvarez Umbarila, Juan (2015): El edificio: un reloj suizo. In: http://revistaelparcero.com/el-edificio-un-reloj-suizo. 05.04.2015. Letzter Zugriff am 30.10.2019.

Bermejo Muñoz, Sandra / Vernal Schmidt, Janina (2016): Graphic Novels im Spanischunterricht. In: Hispanorama /2016/152: 14-19.

Elsner, Daniela (2013): Pop! Wow! Zoom! Mit graphic novels fremdsprachliche literacies fördern. In: Grünewald, Andreas / Plikat, Jochen / Wieland, Katharina (Hrsg.): Bildung – Kompetenz -Literalität: Fremdsprachenunterricht zwischen Standardisierung und Bildungsanspruch. Seelze: Klett: 194-205.

Jairo Buitrago, Daniel Rabanal
El edificio
52 Seiten
ISBN 978-3-12-535719-8