von heiner Wittmann

 

Der deutsch-französische Vertrag, der vor sechzig Jahren am 22. Januar 1963 von Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer im Élysée-Palast unterzeichnet wurde, sollte nach den Vorstellungen des französischen Präsidenten die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich vollenden. 2019 unterzeichneten Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel den Vertrag von Aachen, der auf der Basis der bisherigen Erfolge den deutsch-französischen Beziehungen einen neuen Weg wies.

1. Die deutsch-französische Aussöhnung nach 1945

Die deutsch-französische Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Werk einiger Intellektueller, besonders auf der französischen Seite, die auf die Verantwortung, die den Siegern über Nazideutschland zukam, hinwiesen. Sie wollten ein Revanchedenken vermeiden und traten dafür ein, dass in Deutschland dauerhaft die Demokratie integriert werden müsse und Deutschland in Europa seinen Platz erhalten müsse.

Zu diesen Intellektuellen und Vorläufern, die den Ton angaben, gehörte Albert Camus, der sich auch in der Résistance engagiert hatte. Er schrieb schon 1944 die Briefe an einen deutschen Freund. Kurz nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager Dachau veröffentlicht Joseph Rovan (1918-2004) seinen berühmten Artikel „L’Allemagne de nos mérites“ ‑ „Das Deutschland unserer Verdienste“. Rovan gehört zu denjenigen, die auf einer Verantwortung gegenüber Deutschland pochten: „Das besetzte Deutschland, wie auch immer unsere Politik sein wird, wir müssen es auch als Teil unseres Schicksals begreifen.“

1948 gründet der Journalist und Gründer der Zeitschrift Esprit Emmanuel Mounier (1905-1950) das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle ‑ Französische Komitee für den Austausch mit dem neuen Deutschland. Zu seinen Mitgliedern gehörte, Alfred Grosser (*1925), der von 1955 bis 1992 einen Lehrstuhl am Institut d’Études politiques in Paris innehatte.

Anfang September 1958, wendet sich General de Gaulle an den neuen französischen Botschafter in Bonn, François Seydoux: „Herr Botschafter, ich wünsche, dass Frankreich herzliche Beziehungen […] mit allen Ländern der Erde unterhält; aber es gibt ein Volk, mit dem ich mir so herzliche Beziehungen wie möglich wünsche, und das ist das deutsche Volk. Natürlich wird viel von Bundeskanzler Adenauer abhängen, aber ich finde in diesem großen Mann Anlagen, die mit meinen übereinstimmen, zusammen werden wir große Dinge machen.“ (zit. Bei J. Lacouture, De Gaulle, Bd. 2, Le politique, Paris : Seuil 1985, p. 636.)

De Gaulle lädt Adenauer auf seinen Landsitz nach Colombey-les-deux-Églises ein. Am Ende des Treffens zeigt sich Adenauer davon überzeugt: Der einzige Partner für Frankreich in Europa heißt Deutschland. Zusammen veröffentlichen sie ein Kommuniqué: „Wir sind der Überzeugung, dass die enge Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik die Grundlage jedes konstruktiven Aufbaus in Europa ist. Sie trägt zugleich zur Stärkung des Atlantischen Bündnisse bei und ist unentbehrlich.“

Am 21. Dezember 1958 wird de Gaulle zum Staatspräsidenten gewählt und bei seiner ersten Pressekoferenz im Élysée-Palast, erwähnt er die deutsche Frage: „Die Wiedervereinigung erscheint uns, das normale Schicksal des deutschen Volkes zu sein.,“ erklärt er den Journalisten.

2. Le traite de l’Elysée 

Bei seiner Fernsehansprache am 31. Mai 1960, erwähnte Charles de Gaulle die „Notwendigkeit einer organisierten Kooperation zwischen Staaten“. Das war nur der Versuch, ein Europa zu skizzieren, in dem Frankreich einen ersten Platz einnehmen könnte – Ende Juli 1960 anlässlich des Gipfels von Rambouillet schlug de Gaulle Adenauer eine Art deutsch-französische Konföderation mit einer eigenen Staatsbürgerschaft vor, um das politische Europa vorzubereiten. De Gaulle stellte sich vor, dass die Außen-, die Verteidigungs- und die Finanzpolitik beider Ländern zu gemeinsamen Ressorts zusammengelegt werden sollten. Die anderen Mitglieder der Sechser-Gemeinschaft würden früher oder später schon dem Beispiel Deutschlands und Frankreichs folgen, wenn die beiden Staaten nur vorausgingen, erinnert sich ein Mitarbeiter von Adenauer, Franz Josef Bach. Aber Adenauer wollte gerade nicht den anderen Mitgliedern in dieser Weise vorausgehen und erreichte es, dass diese Passage bezüglich einer solchen Konföderation nicht im Protokoll von Rambouillet erscheinen würde.

Im Juli 1962 wird Adenauer als Staatsgast in Frankreich empfangen. Er und de Gaulle nehmen an der Messe in der Kathedrale von Reims teil. De Gaulle wandte sich an Adenauer: „Denn wir begrüßen aus Anlass Ihres Hierseins den ungeheuren Umschwung, der unsere beiden Länder – einstmals als Erbfeinde entzweit – zu entschlossenen Freunden gewandelt hat, und wir begrüßen in Ihnen einen historischen Schöpfer dieses außerordentlichen Erfolges.“

Im Herbst 1962 kommt de Gaulle zum Staatsbesuch nach Deutschland. Sein Besuch wird ein Triumphzug. Vor dem Rathaus in Bonn wendet sich de Gaulle auf Deutsch an die Zuschauer: „Wenn (ich) Sie so alle um mich herum versammelt sehe, wenn ich Ihre Kundgebungen höre, empfinde ich noch stärker als je zuvor die Würdigung und das Vertrauen, das ich für Ihr großes, jawohl für das große deutsche Volk hege…“ Im Hofe des Ludwigsburger Schlosses hält er in freier Rede auf Deutsch eine bewegende Ansprache an die Adresse der Jugend: „Ich beglückwünsche Sie, junge Deutsche zu sein, das heißt Kinder eines großen Volkes, jawohl, eines großen Volkes, das manchmal im Laufe der Geschichte große Fehler begangen hat; ein Volk, das aber auch der Welt geistige, wissenschaftliche, künstlerische, philosophische Werke gespendet hat; ein Volk, das im friedlichen Werk wie auch in den Leiden des Krieges wahre Schätze an Mut, Disziplin und Organisation entfaltet hat:“ > Vor 60 Jahren: Charles de Gaulle hält in Ludwigsburg seine berühmte Rede an die deutsche Jugend – (www.france-blog.info)

Bei Ihrem Gipfeltreffen am 22 Januar 1963 entscheiden de Gaulle und Adenauer  einen Vertrag feierlich zu unterzeichnen. Mit dem Vertrag wurden künftige halbjährliche Treffen auf höchster Ebene vereinbart: Deutsch-Französischer Tag – 22. Januar 2023 – 60 Jahre Élysée-Vertrag – (www.france-blog.info). Die zahlreichen Treffen gemäß dieses Artikels haben dazu beigetragen, dass aus den deutsch-französischen Beziehungen eine echte Kooperation geworden ist. Außerdem wurde Zusammenarbeit und regelmäßige Konsultationen vor allem auf dem Gebiet der Außenpolitik, der Wirtschaft und der Erziehung vereinbart. Als Ergänzung zu dem Artikel zur Sprachförderung haben Frankreich und Deutschland am 5. Juli 1963, ein Regierungsabkommen beschlossen, mit dem das Deutsch-Französische Jugendwerk geschaffen wurde. (OFAJ). Die Bilanz des DFJW ist beeindruckend. Seit 1963 haben acht Millionen junge Franzosen und Deutsche an über 300.000 Austauschprogrammen teilgenommen. Das DFJW organisiert jedes Jahr rund 6000 Treffen mit über 200.000 Jugendlichen.

Trotz des so neuen Charakters des Élysée-Vertrages gingen die Pläne de Gaulles noch weiter. Für ihn gehörte der Vertrag zu seinem Versuch, Frankreich von Neuem eine Vorrangstellung in Europa zu sichern, während er für die deutsche Seite im Wesentlichen ein Zeichen für erfolgreiche Aussöhnung mit Frankreich war. Die Deutschen verliehen dem Vertrag nicht dieselbe Bedeutung wie General de Gaulle.

In seinen Augen war der Vertrag zuerst ein Misserfolg, denn der Bundestag akzeptierte seine Ratifizierung nur um den Preis einer Präambel, die die unbedingte Bindung der Bundesrepublik an die NATO erinnerte und die Beziehungen zur EWG bestätigte. Es ist ein Wort von de Gaulle überliefert, der dazu gesagt haben soll: Verträge sind wie junge Blüten, sie gehen auf und verwelken schnell. Mit dem Vertrag wurden zwar keine neuen Institutionen geschaffen, aber die vertraglichen Vereinbarungen definierten sehr wohl den Übergang von einer Annäherung zu einer Phase der Kooperation. Würde man alle Bestimmungen mit Leben erfüllen, die Gremien und Arbeitsgruppen, die in allen Bereichen gegründet worden sind, wirklich arbeiten lassen, so sind alle Gründe offenkundig, nicht nur von den Beziehungen, sondern von einer deutsch-französischen Kooperation zu sprechen, die in vielen Bereichen schon über die Bestimmungen des Élysée-Vertrages hinausgeht.

Tatsächlich ist die Zahl der Institutionen und Prozesse der deutsch-französischen Zusammenarbeit beeindruckend hoch. Die deutsch-französische Hochschule, der deutsch-französische Kulturrat, Deutsch-Französischer Verteidigungs- und Sicherheitsrat (DFVSR), Deutsch-Französischer Finanz- und Wirtschaftsrat, Deutsch-FranzösischerUmweltrat. > Macht doch mal eine Liste aller deutsch-französischen Organisationen… (www.france-blog.info) Mit der Lösung dieser Hausaufgabe wird eine Verflechtung zwischen beiden Ländern erkennbar, die kein anderes Länderpaar in der Welt kennt.

Heute sind zwei Minister – auf französischer Seite ist Staatsministerin Laurence Boone und auf deutscher Seite die Europastaatsministerin Dr. Anna Lührmann Beauftragte für die deutsch-französische Zusammenarbeit zuständig. Sie werden unterstützt durch die „Bevollmächtigten der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages über die deutsch-französische Zusammenarbeit“ Anke Rehlinger, Ministerpräsidentin des Saarlandes, und in Frankreich durch den Erziehungsminister, Pap Ndiaye.

Trotz der unterschiedlichen Sichtweisen seiner Eltern ist der Vertrag von 1963 auch deshalb ein so großer Erfolg geworden, weil er den regelmäßigen Dialog auf höchster Ebene, auch in schwierigeren Zeiten, zwischen Deutschland und Frankreich gesichert hat. Die deutsch-französische Kooperation ist ein wirkliches Laboratorium für europäische Ideen zugunsten Europas geworden.

Der Aachener Vertrag, der von Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel 2019 unterzeichnet wurde, weist der deutsch-französischen Kooperation neue Wege, so in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, eine verstärkte Abstimmung auf dem Gebiet der Außenpolitik, ein deutsch-französischer Bürgerfonds und eine deutsch-französische parlamentarische Versammlung, die je 50 Abgeordnete aus Berlin und Paris entsandt werden:

Nachgefragt: Die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung. Die Co-Vorsitzenden Brigitte Klinkert und Nils Schmid antworten auf unsere Fragen (www.france-blog.info).

Die deutsch-französische Kooperation scheint sich manchmal auf wirtschaftliche Themen zu reduzieren. Wir müssen aber heute diese vibrierende kulturelle Atmosphäre der deutsch-französischen Aussöhnung wiederfinden und bewahren: Zwei Staaten, die nach drei Kriegen und so vielen Opfern, so viel Unheil mit Erfolg einen dauerhaften Frieden zum Wohle Europas schließen, das ist es doch, was wir mit dem 60-jährigen Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages von 1963 feiern.

Heiner Wittmann (Jahrgang 1955) ist Romanist, Politikwissenschaftler und Historiker. Zu seinen Fachgebieten gehören u. a. die Deutsch-französischen Beziehungen und franzöissche Literatur. Seit 2006 schreibt er für seinen Frankreich Blog: www.france-blog.info. Zur Zeit unterrichtet er Französisch an einem Internats-Gymnasium auf Schloss Bieberstein in der Nähe von Fulda. Wittmann ist seit 2012 Träger der Palmes académiques der Französischen Republik.

 

Für die Behandlung des Themas Deutsch-Französischer Vertrag im Unterricht bieten sich diese beiden Titel von Ernst Klett Sprachen an: „Depuis notre dernière rencontre“ von Denis Fender und „Les relations franco-allemandes dans la littérature française„.