Von Claudia Schulte

Unsere Bildungspläne fordern viel – inzwischen aber auch Dinge wie die Vermittlung der Fähigkeit zur Perspektivübernahme und Empathie durch Auseinandersetzung mit literarischen Texten. Schülerinnen und Schüler sollen ein Bewusstsein für die persönliche und gesellschaftliche Bedeutung von Sprache entwickeln. Auch Mehrsprachigkeit steht zunehmend im Fokus, da sie heute auch in Deutschland eine gesellschaftliche Realität abbildet.

Lena Goreliks autofiktionaler Roman mit dem fast schon trotzig lesbaren Titel „Wer wir sind“ beschäftigt sich mit dieser Thematik. Lenas Geschichte – die Geschichte einer Migration aus dem russischen St. Petersburg nach Ludwigsburg im Süden Deutschlands und der lange Prozess des Ankommens und Loslösens – begeistert ihre Leserinnen und Leser nicht zuletzt durch die Hommage an die russische Muttersprache, deren Reichtum sich nicht 1:1 ins Deutsche übertragen lässt. Das stete „Dazwischensein“ der Erzählerin manifestiert sich durch die immer wiederkehrenden russischen Wendungen und Ausdrücke, die oft nicht sofort aufgelöst werden. Trotz dieses Spannungsverhältnisses ist der Text auch für Schülerinnen und Schüler gut zu lesen und aufgrund der Perspektive der jungen Lena stets greifbar.

Mehrsprachigkeit als Reichtum und nicht defizitär zu betrachten – ein politisches Bekenntnis und ein starker Appell, der von diesem Werk ausgeht.

„An Richtig kommt man nicht vorbei, das ist ein Haus mit einer einzigen Eingangstür.“
Die Türsteherallegorie, welche die Erzählerin nutzt, beinhaltet gleichzeitig ein großes Plädoyer für die Möglichkeit, „dass sich Sprache entwickelt, dass die Sprache gefaltet, gewendet, bemalt, entzerrt, gesprengt und verwandelt werden darf.“(S. 251)
Dies erleben wir auf ganz besondere Weise in „Wer wir sind“.

Claudia Schulte unterrichtet Deutsch, DaZ und Biologie an einem Gymnasium in NRW. Ihre besonderen Interessensschwerpunkte sind neben der Leseförderung die Sichtbarkeit und Wertschätzung mehrsprachiger Schüler*innen und das Konzept Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (BNE).